Wir erzeugen zwar nicht unser Leben selbst, aber im Wesentlichen unser Er-Leben – Dr. Gunther Schmidt
Unser Bewusstsein entsteht nicht dadurch, dass wir mehr Sinneseindrücke hereinholen, sondern dadurch, dass wir enorm viel weglassen.
Manfred Zimmermann, Professor am Medizinischen Institut der Universität Heidelberg, hat zu diesem Thema sehr interessante Daten geliefert. Er hat festgehalten, dass pro Sekunde 26 Milliarden bits Sinneseindrücke auf unseren Augapfel treffen . Davon werden von unserem Auge, also visuell 10 Millionen bits Sinneseindrücke an unsere Sehrinde weitergeleitet. Ungefähr 1 Millionen bits kommen auditv, also über das Ohr zu unserem Zentralnervensystem. Und dann kommen noch je ein paar Hunderttausend bits über das olfaktorisch-gustatorischen System -unser Geruchs- und Geschmackssystems- und über unser Empfinden unseres Körpers, der Kinästhetik. Es werden also 12 Millionen bits von unseren peripheren Nervensystem an unser Zentralnervensystem geleitet. Doch unser Bewusstsein ist lediglich in der Lage, 40 bits Sinneseindrücke zu verarbeiten.
Ihre Sinne bombardieren Sie also mit Informationen. Ihr Bewusstsein kann aber nur zwischen 5 und 9 Informationen auf einmal verarbeiten. Eine Unmenge an Informationen wird also ausgefiltert. Jede Information geht durch Wahrnehmungsfilter, die wir im Laufe unseres Lebens erworben haben. Dieser Filterprozess wird durch Ihre Werte und Überzeugungen, Erinnerungen, Entscheidungen, Erfahrungen, und den jeweiligen kulturellen und sozialen Hintergrund beeinflusst, so dass nur durchkommt, wofür die individuellen Filter empfangsbereit sind, darauf, worauf wir unseren Fokus richten. So sieht jeder die Welt durch seine eigene individuelle Brille.
Kein Mensch kann also die Welt wahrnehmen, wie sie wirklich ist. Alle Ereignisse, Situationen oder andere Menschen werden durch die eigene individuelle Brille gesehen, welche auf einen bestimmten Fokus eingestellt ist und dann werden noch die Information durch verschiedenen Erfahrungsfilter interpretiert und bewertet. Daher hat jeder seine eigene erlebte innere individuelle Realität und reagiert entsprechend. (Beispiel: Zeugenaussagen bei einem Unfall. Jeder hat dasselbe gesehen, aber jeder nimmt aufgrund seiner eigenen individuellen Brille etwas anderes wahr und bewertet entsprechend). Da jeder aufrund seiner eigenen individuellen Lebensgeschichte sein eigenes Modell der Welt -seine eigene Brille- hat, gehören Missverständnisse zur Kommunikation dazu.
Konflikte können dort auftreten, wo wir vergessen, dass was und wie wir die Welt erleben, sehr individuell von unserem Fokus, von unserer eigenen individuellen ‘Brille’ abhängt und wir so tun, als hätten nur wir die einzig gültige Realität wahrgenommen, obgleich wir ständig filtern und interpretieren und damit uns unsere eigene Realität schaffen. Wer kennt nicht das Phänomen, dass nur jeder das wahrnimmt, was er scheinbar sehen oder hören will und er entsprechend reagiert. So entstehen Missverstännisse bzw. Konflikte.
Wenn nun zwei Personen aufeinandertreffen, welche eine unterschiedliche Wahrnehmung, ein unterschiedliches Modell der Welt haben und beide meinen, nur ihre Sichtweise wäre die Richtige, dann haben wir einen Konflikt. Konflikte gehören zum Menschsein und indem wir die Sichtweise des anderen kennenlernen, können wir unser Modell der Welt erweitern, Konflikte transformieren.
Die Studie aus Michigan belegte, dass emotionaler Schmerz identisch ist mit körperlichem Schmerz. Denn dieselben Areale des Gehirns, welche bei körperlichem Schmerz aktiviert werden, werden ebenfalls bei leidvollen emotionalen Reizen aktiviert und auf der organischen Ebene beantwortet. Soziale Konflikte werden also von unserem Gehirn als ebenso bedrohlich bewertet wie körperliche Beschädigungen.
- Die Amygdala ist Teil des limbische Systems, das sich dem Bewusstsein entziehende System, entwickeln sich embryonal bereits ab der fünften Woche und damit weit vor dem bewusstseinsfähigen System, der erst nach der Geburt ausreift und erst mit Ende der Pubertät abgeschlossen ist.
- „Infantile Amnesie“ führt man auf die mangelnde Sprachkodierungsfähigkeit und den geringen Wortschatz kleiner Kinder, das Fehlen bewusster Erinnerung an die ersten Lebensjahre zurück. Die in dieser Zeit erfahrene Extremerlebnisse sind unbewusst präsent und beeinflussen unser gegenwärtiges Handeln.
- Die subliminale Wahrnehmung, das Erkennen von Reizen, die wegen ihrer zeitlichen Kürze oder dadurch, dass sie von anderen Reizen verdeckt (maskiert) werden, können nicht in das Bewusstsein vordringen, so dass wir angeblich 95 % unserer Informationen unbewusst aufnehmen.
- „Phänomen des transgenerationellen Transfers“ der Bindungsforschung: Gefühle wie Angst, Wut und Verzweiflung werden an spätere Generationen weitergegeben
- Stressreaktionen sind schon ab der 23. Woche zu beobachten und werden im Körpergedächtnis (als neuronale Vernetzung) gespeichert.
- Jede Zelle, jedes Organ, jedes Individuum, jede Lebensgemeinschaft hat „ihr eigenes, durch die jeweiligen bisher gemachten Erfahrungen herausgeformtes Gedächtnis“. Das menschliche Gehirn kann bestimmte Erfahrungen erst dann verbalisieren, wenn auch die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck hinreichend entwickelt ist. Somit sind zwar alle davor gemachten Erfahrungen „im Gedächtnis der Zellen einzelner Organe, einzelner Hirnbereiche oder des ganzen Körpers gespeichert. Sie können jedoch nicht bewusst erinnert oder mitgeteilt werden, kommen jedoch bisweilen auf andere, zum Beispiel körperliche Weise zum Ausdruck“ (Hüther, 2010b, S. 72-73).
- „Sowohl die emotionalen Reaktionen als auch der bewusste Inhalt, sind Produkte spezialisierter Emotionssysteme, die unbewußt arbeiten“. So kann man das Gefühl bewusst wahrnehmen, jedoch nicht verstehen, da man den eigentlichen Ursprung nicht kenne und man schreibe einfach dem Auslöser die Verursachung zu (LeDeoux, 2010, S, 321)
- „Der Kern des Selbst ist somit nonverbal und unbewusst und ist eingebettet in die Matrix der Affektregulation“ (Schore, 2007, S. 43)
„Diejenigen Hirnzellen, die unsere Denk- und Gefühlswelt und schließlich unser Handeln in unseren Grundzügen bestimmen, liegen außerhalb in der assoziativen Großhirnrinde und sind dem bewussten Erleben nicht direkt zugänglich. Die Anteile unserer Persönlichkeit, die sich vor dem dritten und vierten Lebensjahr ausformte, sind uns aufgrund der ‚infantilen Amnesie’ grundsätzlich unzugänglich, ebenso all die Dinge, die uns beeinflussen, ohne dass wir etwas davon merken. […] Unser bewusstes Ich […] gleicht einem Regierungssprecher, der Dinge interpretiert und legitimiert, deren Gründe und Hintergründe er gar nicht kennt“ (Roth, 2001, S. 368–370).
Somit sind 100 % unserer Erfahrungen in jeder Zelle unseres Körpers gespeichert und wir verhalten uns ensprechend. Jedoch ist uns die zugrundeliegende Erfahrung oft nur schwer oder garnicht direkt bewusst zugänglich.
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